Produktion

EINE (ECHTE!) PIRATIN

In den größeren Städten fand er im Bahnhof immer ein Buch, das ihn eine Weile begleiten sollte, und in der nahen Umgebung meistens einen Gebrauchtwaren-Importexport-Schuppen, in dem er was zu lesen fand, das aus dem Neuwarenangebot schon lange verschwunden war und ihn so reizte, wie ihn auch eine Kalaschnikow von 1947 gereizt hätte.

In Leipzig zog er aus einer Kiste, die unter einem Arsenal sensationeller Wassergewehre auf dem Boden stand, Piratin Fu heraus, die schon einiges mitgemacht hatte, seit sie von Robert H. Sperling auf die deutsch lesende Menschheit losgelassen worden war. Gisela Kopp hatte gleich auf die erste Seite der Lizenzausgabe für die Mitglieder der Stuttgarter Hausbücherei schwungvoll groß ihren Namen geschrieben. In der Hocke las er die ersten Zeilen.

Ich bin Fu, die Tigerin. Meine Landsleute sagen, ich hätte tausend Männer getötet. Das ist weit übertrieben. Trotzdem erheben sich alle Fischer im Perlflußdelta, wenn ich an Bord komme. Mit meinen sechsundzwanzig Jahren habe ich noch keine chinesische Frau gesehen, vor der Männer aufstehen. Ich meine gelbe, schlaue und mutvolle Männer, die zwischen Wasser und Himmel zu leben gewohnt sind. Warum ich diesen Bericht schreibe? Weil ich Silberdollars brauche – und zugleich jemanden mit diesen Seiten an den Galgen bringen will. Heilige Hölle, war das vielleicht kein Anfang? Er hatte in seinem Koffer nichtmal Platz für ein Gramm Heroin und er hatte das fast immer verfügbare weltweite Netz dabei, in dem er sich zu Tode surfen, lesen oder schauen konnte. Aber er fühlte sich besser, wenn er auch was dabei hatte, das er in die Hand nehmen konnte. Außerdem war die Piratin Fu sicher viel zu schlau, um sich im Netz mit derartigen Bekenntnissen zu präsentieren. Eines der Fotos zeigte die lachende Kriegerin, die sich auch als Luxuscallgirl tarnen konnte.

Jedes Buch 50 Cent, sagte der Ladenbesitzer, und wenn du zehn nimmst, eins umsonst. Er fand heraus, dass er es mit  1500 Prozent Gewinn verkaufen konnte. Was ihn aufgrund seiner Wohnsituation hundertprozentig überfordert hätte. Ihre Liaison hielt nur vier Tage. Dann musste er Piratin Fu in einem Zug liegen lassen. Sie lag lieber in einem Zug als in einem Hotel. Das war sicher.



GRAM PARSONS

starb heute vor 39 Jahren. Für den Band SZ-Diskothek 1974 schrieb ich dies über ihn:

In My Hour Of Darkness

Das Leben des Gram Parsons war kurz, heftig, tragisch. Ein düsteres und durchgeknalltes Rock’n’Roll-Märchen: mit dem genialen Künstler und vielen Drogen, mit geerbten Millionen und einem gestohlenen Sarg.

Gram Parsons lebte nicht mehr, als im Januar 1974 sein zweites Solo-Album „Grievous Angel“ erschien; dieser verletzte, kaputte, traurige Engel, das        war er selbst. Nach den Aufnahmen in Hollywood fuhr Parsons mit Freunden zu seinem besonderen Ort im Joshua Tree Nationalpark, um auszuruhen, umgeben von Wüste und Felsen. Dort starb er am 19. September 1973 mit 26 Jahren in einem Motelzimmer an einer Überdosis verschiedener Drogen.  Seinem chaotischen Leben hatte er ein schmales Werk abgerungen, in dem es nicht einen kleinen Hit gab; auch das letzte Album war trotz diesem Tod und seiner irren Geschichte danach ein Misserfolg. Von den vier Platten mit anderen Bands schaffte es eine in den unteren Bereich der Top-100-Charts. Nur eine kleine Szene wusste, dass dieses unzuverlässig-unproduktive Genie ein bedeutendes Werk geschaffen hatte.

Wenige Jahre später wurde jede Produktion, die Parsons geprägt hatte, als Meilenstein gefeiert, er selbst als Pionier der Verbindung Country und Rock, als Erneuerer beider Genres. 1946 in Winter Haven, Florida, geboren, arbeitete er sich als Teenager schnellstens mit diversen Bands durch den Rock’n’Roll- und Folk-Rock-Katalog. Im Hintergrund seiner frühen Drogensucht: eine von Selbstmord und Alkohol zerstörte Familie und ihre mit Orangen-Plantagen angehäuften Millionen, die er als schlechte Basis für einen Country-Rocker betrachtete. In Los Angeles bekam seine International Submarine Band 1967 einen Vertrag bei Lee Hazelwoods Label, Parsons innovative „Cosmic American Music“ wurde von den Stars der L.A.-Szene bewundert.

Die Geschichte von Genie und Desaster konnte beginnen. Als die erste Country-Rock-Platte aller Zeiten erschien, gab’s die Band nicht mehr. Parsons war zu den Byrds gesprungen; angeheuert als Klavierspieler, setzte sich der Sänger-Gitarrist mit seiner Sound-Vision durch. Die fertigen Aufnahmen wurden von Hazelwood gestoppt, Parsons war bei ihm unter Vertrag und deshalb erschien 1968 „seine“ Byrds-Platte „Sweetheart Of The Rodeo“ (mit einer Ausnahme) ohne seinen Gesang. Weil er nicht im rassistischen Süd-Afrika spielen wollte (oder wegen seiner panischen Flugangst), verließ er die Band. Nach „seiner“ großartigen ersten LP mit den Flying Burrito Brothers wurde er wegen unkontrollierbarem Drogenkonsum gefeuert. Den Rolling Stones erteilte er Country-Lektionen, die auf ihren Platten dieser Jahre Spuren hinterließen; sein Freund Keith Richards wollte seine Solo-LP produzieren, aber selbst dieser Junkie schreckte dann vor dem Junkie Parsons zurück. Und: so weiter.

Dass er mit „GP“ (1973) und dem letzten Album seine Vollendung erreichte, lag auch daran: er arbeitete mit hochverehrten Musikern aus Elvis´ Live-Band und wollte sich vor ihnen keine Blöße geben; und mit seiner Duett-Sängerin, der damals unbekannten Emmylou Harris, verband ihn eine geradezu magische (musikalische) Beziehung. Mit ihr schrieb er seinen letzten Song, das Gebet „In My Hour Of Darkness“, eine Erinnerung an drei verstorbene Freunde. Bei der Beerdigung von Clarence White (von dem die zweite Strophe erzählt) hatte ihn das kirchliche Zeremoniell (angeblich) abgestoßen und er forderte von seinem Roadmanager das Versprechen, ihn eines Tages vor sowas zu bewahren. Und deshalb klaute der Freund den Sarg von Parsons am Flughafen, fuhr ihn zurück nach Joshua Tree und versuchte die Leiche zu verbrennen. Man weiß, es war eine eher dumpfe Aktion. Im Gegensatz zur puren Schönheit von Gram Parsons´ Musik.

 



HANK WILLIAMS

wurde heute vor 89 Jahren geboren. Ich habe mehrere Beiträge über seine Musik und Bedeutung geschrieben. Zuletzt ein Nachwort für den Comicroman Lost Highway von Soren Glosimodt Mosdal (Edition Moderne, 2011). Seinem speziellen Blick entsprechend, sind die Gespenster ein Thema. Und das geht so:

HILLBILLY GEISTERBAHN

Das Jahr 1953 begann nicht gut für Billie Jean Williams. Die 19-jährige Ehefrau des Countrystars Hank Williams war bei ihren Eltern, als am Morgen des Neujahrstags der Anruf kam. Sie beobachtete ihren Vater am Telefon und wusste sofort, dass ihr Mann schon wieder in irgendwas reingeraten war. Dann nahm ihr Vater sie in den Arm und überbrachte ihr die Nachricht vom Tod.

Sie schrie und weinte und sagte zu ihrem Vater, er solle dort anrufen, „ich sagte: ‚Sie sollen ihn nicht anrühren! Manchmal täuscht er nur vor, dass er schläft!’ Ich befürchtete, dass sie ihn lebendig begraben würden.“

Die Geisterbahn, in der Hank Williams durch sein Leben rauschte, hatte nach 29 Jahren die Endstation erreicht. Während der Geisterbahnfahrt hatten sich einige Monster und Gespenster vor ihm aufgebaut, und als die Bahn ihre letzte Runde drehte, tobte ein Blizzard, vor dem sich selbst der Heilige Geist verkrochen hatte.

Ich weiß nichts über Gespenster. Nur dass sie in diesen Situationen gern auftauchen. Man weiß wenig darüber. Und man weiß auch nicht, wann Hank Williams starb, im letzten Hotel, auf der Rückbank des Cadillac, am letzten Ende des Jahres 1952 oder in den ersten Stunden des nächsten Jahres? Ist das wichtig? Ist an der Sache irgendwas gespenstisch? Oder wollen wir es nur etwas seltsam nennen? War der Aufbruch in die vorhergesagte weisse Hölle, um zum Konzert im zwei Tagesreisen entfernten Clanton, Ohio, zu kommen, eine Dummheit oder doch nur Gottes Wille? Sicher ist, dass Hank falsch lag, als er dem erschöpften Fahrer erklärte, Jesus sei ihr Ersatzfahrer. Und sicher ist, dass sein Sarg wenige Tage nach der Beerdigung ausgegraben wurde.

20.000 Menschen waren bei seiner Beerdigung, und es heißt, dass es in Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, nie eine größere Trauergemeinde gab. Das Besondere war, berichtete der Fiddler Jerry Rivers, dass Menschen aus allen Schichten dabei waren, „ein grauhaariger Funktionär im konservativen blauen Anzug, junge Männer in Lederjacken, alte Frauen mit Kopftüchern, weinende junge Mädchen in glänzender Seide, Weiße und Farbige, Männer in Luftwaffenuniform und Männer in der Westerntracht der Entertainer.“ Dieses Spektrum hatte mit dem Image von Countrymusik wenig zu tun.

Dreitausend war es vergönnt, an der Messe in der Stadthalle teilzunehmen, Hanks Leichnam zu sehen, die weiße Bibel in seinen Händen. Im ersten Rang hatte man 200 Afroamerikaner von den Weißen separiert. Ich stelle mir vor, dass Rosa Parks unter ihnen saß, die nur drei Jahre später den berühmten Busstreik in Montgomery beginnen sollte. Wurde sie von Typen angestarrt, die nachts in Gespensterklamotten schlüpften? Man weiß immer zu wenig. Die Klanmänner mochten sicher nicht den Blues, aus dem die Hanksongs gekrochen waren.

Er betonte es immer wieder. Seine wichtigste musikalische Lehre habe er als Junge bei dem schwarzen Straßenmusiker Rufus Payne alias Tee-Tot erhalten. Die Mutter schimpfte, gottverdammich, haste denn nichts Besseres zu tun als „lollygag around niggertown all day?!“ Diese Lehre war nichts Besonderes, kaum ein bedeutender Countrymusiker aus dieser Zeit hat nicht bei einem Bluessänger/gitarristen gelernt. Es ist grotesk und gespenstisch, wenn jemand glaubt, Country wäre eine reinweiße Musik. Aber es war ungewöhnlich, dass der Star, zu dem Hank Williams mit seinem 1949er-Hit „Lovesick Blues“ geworden war, sich öffentlich vor so einem Tee-Tot, einem Tee-mit-Schnaps saufenden „Nigger“, verneigte. Bei einem Festakt in Montgomery hatte er Tee-Tot sogar ehren wollen und ließ nach ihm suchen: Rufus Payne lag seit 1939 in einem Armengrab.

Kein anderer Countrysongwriter vor oder nach Hiram Williams war so stark bluesinfiziert. Nicht nur musikalisch. Die hoffnungslose Variante des Blues war ein Teil seiner Persönlichkeit, ein verzweifelter Zug in seinem Charakter, der ihn nicht älter als 29 werden ließ.

Mit „Move It On Over“ hatte Hank Williams 1947 seinen ersten Erfolg gehabt. Eingespielt mit Fiddle, Bass und vier Gitarren, von denen Zeke Turners elektrische scharf nach vorn gemischt war, war es einer der ersten Songs, die Rock’n’Roll ankündigten. Und natürlich war es dann die Live-Fast-Die-Young-Story, die ihn für alle Generationen von Musikern zum Held machten. Der Held, der sich nicht kontrollieren konnte und ließ. Der lieber schnell ausbrannte. Sich aus dunkelster Seele Songs schnitt. Heulte, brüllte, Scheiße baute. Seine Ehehölle rücksichtslos besang und mit perfektem Gespür für Rhythmus. Auf seine Ehefrau Audrey schoss. Ein katastrophaler Geschäftsmann. Der geil auf Erfolg war, aber auf lukrative Filmangebote spuckte. Unsummen verschleuderte, größte Konzerte platzen ließ. Unfähig, die Bremse zu ziehen. Zugedröhnt sein Publikum beschimpfte. Genie und  Knalltüte. Jagen, Fischen, Monster-Comics. Die manisch erträumte heile Familie und die Unfähigkeit zu einem irgendwiiiie normalen Leben: die Kluft, aus der gern Gespenster kommen.

Aber dann an einem Nachmittag ein paar Klassiker hinkritzeln und sie alle in ein paar Stunden komplett fertig aufnehmen.

Das ist der Rock’n’Roll, den Millionen junger Menschen im Kopf haben, wenn sie sich im Übungsraum treffen. Ich glaube, es war Kinky Friedman, der davor warnte: Alle wollen Hank Williams sein, aber keiner will so sterben. Dieser eher an ein Promi-Dasein geknüpfte Hank-Traum sieht in der Countryindustrie von heute besonders blöd aus. Auf die von allen angehimmelte Himmelsgestalt Hank beruft sich (so hat es Dale Watson in einem Song beschrieben) auch noch der Sänger, dessen größtes Problem im Leben war, während einer einwöchigen Tournee in einem Hotelzimmer gelandet zu sein, wo der Fernseher kaputt war.

Williams kam aus einer anderen Welt. Als er Anfang der 40er seine Band formierte, ging er zuerst in einen Waffenladen, um jedem Musiker einen Totschläger zu kaufen. Denn in den Schuppen, in denen sie spielten, bräuchten sie sowas, erklärte er ihnen. Gelegentlich schlug Lum York den Standbass für die Drifting Cowboys, und seine Job war es, dazwischen ein paar Witze zu erzählen. Er pappte sich farbige Punkte, so genannte Polka Dots ins Gesicht und machte Blödsinn. Wenige Tage vor seinem Tod wollte ihn Hank wieder in seine Band holen, aber Lum hatte ein gutes Engagement bei Lefty Frizzell. Außerdem hatte Hank keine Band mehr. Sie hatte das Chaos nicht mehr ausgehalten. Sein Name hatte kaum an Glanz verloren, doch er spielte fast nur noch in den miesen Schuppen seiner Vergangenheit. Manager und Ärzte verpassten ihm harte Medikamentencocktails, damit er auf der Bühne irgendwas bieten konnte und weiter Geld abwarf.

Ein Leben auf Tournee sah damals anders aus. Die glorreichen Jahre von 1949 bis 1951 verbrachten sie meistens im Auto, fuhren eingeklemmt die Nacht und den nächsten Tag durch zum nächsten Konzert. 1949 hatte Hank über drei Millionen Platten verkauft, aber es gab diese Tourneeriesenbusse noch nicht. Exakt in diesen Jahren blühte Nashville zur Countrymusikindustriestadt auf. Die Grand Ole Opry wurde zur berühmtesten Konzerthalle mit Radioshow und Künstlertruppe. Selbst die großen New Yorker Labels waren angekommen, immer mehr Aufnahmestudios wurden benötigt, die jeden Tag Musiker brauchten. Wer’s schaffte, sich einen festen Job zu besorgen, ersparte sich die nervtötenden endlosen Autofahrten. Die für Hank Williams’ schweres Rückenleiden Gift waren. Weshalb sein Hang zu betäubenden Mitteln jeder Art immer wieder angefeuert wurde. Er hatte zu seinem letzten Konzert fliegen wollen – doch der Schneesturm stürzte auf die Welt wie ein Monster. Das Auto war der passende Ort für das Ende.

Und war es nicht etwas seltsam, dass in diesen Tagen „I’ll Never Get Out Of This World Alive“ im Radio ertönte, eine seiner letzten Aufnahmen, die erst der Tod an die Spitze der Charts schob. Genau einen Tag nach Hanks Tod wurde der erste von vielen Ich-erzähl-euch-die-Hankstory-Songs aufgenommen. Bald darauf war Hanks „Kaw-Liga“, der traurige Holzindianer, der mit seinem geliebten Holzindianermädchen nicht zusammenkommen kann, ein Nr.-1-Hit. Mit dem früh gealterten, ausgebrannten Williams war es immer schwieriger geworden, Geschäfte zu machen. Der größte Country-Werbeträger, die Grand Ole Opry hatte ihn wegen Unzuverlässigkeit gefeuert. Er hatte als stärkster Motor für ein aufstrebendes Musikgeschäft gedient, in dessen geordneten Bahnen für so einen unberechenbaren, anders funktionierenden Typen kein Platz mehr war. Es war einfacher, mit dem Toten klarzukommen. Die großen Geschäfte sollten noch kommen.

Soren Mosdal lässt einige Gespenster gegen sein Skelett aus Fakten antanzen. Ein nie verfilmtes Skript von Paul Schrader habe ihn inspiriert, erzählte er in einem Interview, und sein großartiger Comicroman könnte auch als würdiger Teil 2 von Taxi Driver gesehen werden. Die Aussagen des Ersatzfahrers Charles Carr ergaben nie mehr als das, was Mosdal zeigt: die Cops, die ihn anhielten, zwei Damen im Hotel; andere von Carrs Angaben waren nur widersprüchlich. Als man an der Leiche frische Spuren von schweren Schlägen fand, hatte er keine Erklärung dafür. Lost Highway zeigt, was der vollkommen überforderte 18-jährige erlebt hatte: eine Höllenfahrt.

Die Gespenster um Hank veranstalteten noch länger ein tolles Hullygully. Ihr wisst ja, dass ihr es auch anders nennen könnt. Colin Escott, der die beste Hankbiographie schrieb, nannte dieses Kapitel „Schreckliche Abgründe“, und was ich davon erwähne, ist nur ein Bruchteil: Zuerst ließ der Grand Ole Opry-Konzern Plakate drucken, die mit dem großen Hank warben, obwohl sie ihn doch gefeuert hatten; das war der Anfang der Legende vom netten Kerl. Hanks junge Ehefrau war nach zwei Wochen wieder munter, als sie auf den Vorschlag eines geschäftstüchtigen Burschen einging, mit einer Band als „Mrs. Hank Williams“ auf Tour zu gehen. Hanks noch nicht lang von ihm geschiedene Frau Audrey ging ebenfalls als „Mrs. Hank Williams“ auf Tour. Das bestes Schlachtfeld ihres zehnjährigen Ehekriegs war, dass Audrey in Hanks Band mitsingen wollte, aber kein Talent hatte und mit zunehmendem Erfolg ausgeschlossen war. Jetzt hatte sie endlich eine freie (sehr kurze) Bahn ins heiß ersehnte Showbusiness. Als sie das Management für den kleinen Hank Williams Jr. übernahm, der zum Countrystar und Sarah Palin-Fan heranreifen sollte, organisierte sie sein erstes Konzert in Clanton, Ohio, in dem Konzertsaal, den sein Daddy damals nicht mehr erreicht hatte. Dagegen waren die folgenden Erbschafts- und Songrechtekämpfe fast harmlos.

Hank und seine neue Frau Billie Jean hatten im letzten August dreimal an einem Tag geheiratet. Zwei der Zeremonien fanden auf der Bühne in New Orleans statt. Für zwei Shows, in deren Verlauf Hank sang und dann seiner Braut das Ja-Wort gab, waren über 10.000 Tickets verkauft worden. Wer seine Musik nicht versteht, könnte zumindest diese Geschäftsidee zukunftsweisend nennen. 1953 heiratete Billie Jean wieder einen Countrysänger, Johnny Horton, ein Mann, der an spiritistischen Sitzungen teilnahm und an Seelenwanderung glaubte. Er hasste es, auf Tournee zu gehen. Er starb 1960 auf der Rückfahrt nach einem Konzert in Austin, als ein Betrunkener in sie reinfuhr. Johnny Hortons letzte Bühne war die, auf der auch Billies Jeans Gatte Hank Williams sein letztes Konzert gegeben hatte.

Hanks Geburtsname war Hiram, nach einem König aus dem Alten Testament. Es vergingen zehn Jahre, ehe auf dem Standesamt sein Name eingetragen wurde, und dann war er falsch geschrieben: Hiriam. Ein Priester sagte, er solle sich keine Gedanken deswegen machen, das sei kein schlechtes Omen. Aber der amerikanische Süden war ein seltsames Religionsgebiet. Manche wälzten sich schreiend auf dem Boden, wenn Jesus mit ihnen sprach, und andere bissen einer Klapperschlange den Kopf ab, um die Stimme Jesu endlich zu hören.

Am 17. Januar 1953 wurde der Sarg wieder ausgegraben. Unter ihm lagen die Überreste französischer Soldaten, die exhumiert werden mussten. Hanks Leiche wurde umgebettet, nachts, um keine Gerüchte aufkommen zu lassen. Doch „einige mitternächtliche Passanten sahen, wie der Sarg im flackernden Lampenschein über den Friedhof getragen wurde.“

Und da war eine Stimme, die „I Saw The Light“ summte. Manchmal kannst du sie auch heute noch hören. In dem Moment, wenn die Nadel springt.



TOPCOVERS DER WELT Nr.101

Die Kollegen von den mittelständischen Unternehmen kennen das spezielle Problem dieses Blocks, dem wir jedoch keineswegs besondere Beachtung schenken: der neue Praktikant/in.

Alle begrüßen ihn freundlich und setzen sich, da besteh ich drauf, mit ihm an den runden Tisch. Wird schon schiefgehn! Ist sowieso in erster Linie eine Angelegenheit unseres Geschäftsführers (der seine Berufsbezeichnung nicht leiden kann (!)), während ich mich vom Ausbildungsbereich eher fernhalte. Es gibt schon genug zu tun.

Sagt also unser G-Führer, der gern forsch rangeht, zum Praktikant/in: Haben Sie schon eine Idee, die Sie möglichst selbstständig realisieren und promoten können?

Praktikant/in: Logisch. Die 100 besten Top-Covers der Welt. Ich dachte, cooles Zeug kann hier nichts schaden.

Totales Schweigen brach unter den zwölf Mitarbeitern aus.

Ich wusste nicht, was die anderen dachten, aber ich dachte, dass man cool inzwischen nicht mehr sagen durfte. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher und dachte, dass ich keine Lust hatte, das anzudiskutieren. Dann dachte ich, dass es langsam wieder reichen würde mit dem totalen Schweigen. Sogar der Geschäftsführer hielt die Klappe, und das kommt wirklich gaaanz selten vor. Ich dachte, dass er langsam etwas abbaute. Ich machte mir eine Notiz.

Das totale Schweigen dauerte. Bis sich endlich dieses ekelhaft knarrende alte Tor ganz geöffnet hatte.

Bis das Tor zur Hölle ganz offen war.

Dann öffnete sich der Mund unserer Musikredakteurin, aber die Bildredakteurin war wieder mal schneller: Die 100 besten Top-Covers? Oder vielleicht besser „In 50 Covers um die Welt?“

Ich dachte, dass mir diese Kleingeister am A. vorbei auf den S. gingen. Man darf die Worte nicht mehr aussprechen. Was ja manchmal sogar nicht so schlecht ist. Ich dachte auch, dass die Jalousie an unserem Zeitfenster langsam unten war. Ich dachte, dass unser Literaturredakteur endlich mal einen im altmodischen Sinne grundsoliden Aufsatz über die Aktualität Robbe-Grillets schreiben sollte. Anstatt auch noch dem schlechtesten der hundert schlechtesten skandinavischen Top-Krimis auch noch einen zu blasen. Es gab sogar Gerüchte, dass er selbst unter Pseudonym… also quasi, um sich selbst… aber ich bin zu alt, um auf…

Ich sagte zum Praktikant/in: Super Idee! Hau rein! Don´t think twice! Und lass dir von diesen Arschgeigen nichts erzählen, wenn du sie am Kaffeeautomaten triffst. Gibt´s ein Problem, kommst du zu mir. Ende – wir moven on!

Naturgemäß war es meine Pflicht, die Idee des Praktikanten/in zu verbessern. Der gute Profi hilft dem Neuling (der böse beklaut ihn). Ich drückte ihm aufs Auge, dass seine Top-Liste der besten Top-Covers 101 Positionen haben müsste. Denn das traue sich im abgehalfterten Business der Top-100-(oder 500-gähn-)Listen niemand. Keine Diskussion. (Sprachliche Details erwähnte ich nicht (scheiß auf die beschissenen Klugscheißer)). An sein strahlendes Gesicht werde ich mich auf dem Totenbett erinnern.

Ich sollte es nicht bereuen. Hier also die Nr. 101 der Liste dieses talentierten Kerls:

Produkt-Information



ROCK’N’ROLL FEVER (3)

Der 2,34 kg schwere Bildband von Guido Sieber und mir ist das, wofür der so gut wie illegale Ausdruck „kleiner Hit“ erfunden wurde, was heißt, dass der Katalog sich seit zwei Jahren z.B. meistens in der oberen Hälfte der Top-50 für den Bereich „Popkultur“ des größten Buchverkäufers hält. Aber wenn man mal die No.2 war, sieht man jeden Platz unterhalb der Top-5 natürlich auch etwas selbstkritisch… Obwohl wir uns von den Tantiemen eine Villa auf Mallorca (er) und zwei nicht so große Häuser auf der Toscana (ich) kaufen konnten, ist unsere investigative Kreativität kaum gesunken!

Hier eine eher nachdenkliche Episode aus dem letzten Kapitel, S.222: >BLUESPUBLIKUM BERLIN 2009 (Abb. 333) „Vor 15 Jahren (erzählt Guido) saß ich mal in einem Kreis von Galeristen und Kunstsammlern beim Abendessen. Die Jazz-Blues-Rotweintrinker-Fraktion war das, man fährt mit seiner Clique nach Sylt, um Sport zu machen. Und so ein Typ um die 50, mit junger Frau und jungem Kind, erzählt mir, dass er davon träumt, in New Orleans einen Laden aufzumachen. Zu der Zeit hatte John Lee Hooker dieses sehr erfolgreiche Comeback. Und dann sagt ausgerechnet dieser Typ, dass Hooker für ihn gestorben ist, ein Verräter! Hooker hat den echten Blues verraten! Konnte man natürlich nicht so stehen lassen, ich hab an dem Abend auch nichts verkauft.“< (Selbstportrait Guido Sieber, während der Diskussion mit dem Galeristen).



WITZ ODER WITZER

ist eine Insiderverständigung in der Branche der Witz-Erfinder. Wer in dieser Branche einmal, egal für wen oder wie lang, seine Brötchen verdienen musste, wird das nie wieder los. Man kann diese Community (die nicht nur bizarr-komische, sondern immer auch tragische Züge aufweist) und die damit verbundene Haltung eigentlich nie wieder verlassen. Selbst wenn man den Ausstieg geschafft hat und die sozusagen zwangsweise passierenden Erfindungen z.B. nur noch im Freundeskreis präsentiert.

Eines Tages treffen sich Adolf Hitler und Osama bin Laden im Himmel.

Sagt Hitler: Vorr dämm grossn Buch därr Gäschichtä musste ich ärkännänn, dass du lätztändlich auch nurr ein Weichei gäwässn bisst!

bin Laden: Aber wenigstens kein nichtrauchender Vegetarier.



FROM HELL

to Texas“, heißt ein texanischer Spruch unter Texanern, die ihre Heimat nicht jeden Tag über alles lieben. Ich war in der Hölle und musste dann auch noch, womit hab ich diese Strafe verdient, in Texas landen. Jetzt aber zu ganz was Anderem:

Besuchen Sie meine große (*)
FROM HELL TO MJUNIK-TOUR 2012
Fr 27.7. Optimal Promo&Tellin Nice Stand-up-Shit-Show
Ort: 30 Jahre Optimalplattenladensommerfest 20h / mit Vorgruppe Georg M. Oswald
Sa 28.7. Diskjockey DownTownTwang
Ort: Hausmunik Ladenschluss-Party 20h / mit live Oktober Folk Club / Pariser Str. 11
So 29.7. Rezitation Jesse James und andere (alte und neue) Westerngedichte
Ort: Ausstellungsfinale Vacancy/No Vacancy von Blum&Süßmilch 19h Akademiegalerie U-Bahn-Station Universität
(*) oder drücken Sie hier, um alle drei Vorstellungen schon jetzt gratis downzuloaden: xxx


CATWALK SMALLTALK (4)

– Logischerweise disqualifiziert der Vorwurf, etwas sei >dumm<, augenblicklich denjenigen, der ihn macht, weil das ein Angriff auf nicht verstandene Inhalte ist, ohne jedes Interesse daran, herauszufinden, was man an der jeweiligen Betrachtungsweise erweitern könnte.

– Glaub ich nicht.

– Was kamma´n dir einglich schon vorlesen?

– Schau ma, die Tante, wass´n das bitteschön?

– Alexander McQueen-Kleid.

– Würd ich mich tausendmal lieber von Steve McQueen überfahren lassen.

– Wenn er noch leben würde.

– Was man an der jeweiligen Betrachtungsweise erweitern könnte.

– Wenn was dumm ist.

– Ach, wenn er doch noch leben würde.

– Gibt´s ´n gescheites Leben in einem dummen?

– Lecko mio.

– Kommt aber noch´n Satz.

– In dei´m Facebook vielleicht.



WER KENNT CREWS? (Pt. 2)

Hier der Deutschlandfunkbeitrag zu „Scarlover“, inzwischen der dritte Crews-Roman auf deutsch, weshalb das Christkind nun doch den Verlag Mox & Maritz gesegnet hat.  Während es einen Song von Kris Kristofferson im Ohr hatte: „If you don´t like Hank Williams, Baby, you can kiss my ass.“

TÄTOWIERUNG UND ANDERE VERLETZUNGEN

Verletzungen, Wunden, Narben, Tätowierungen, Operationen, Unfälle, Verheiltes und verheilte Verwundungen, die wieder aufbrechen, sei es an Körper oder Seele, darum geht es in Harry Crews‘ Roman „Scarlover“, der auch in der deutschen Ausgabe „Scarlover“ heißt . Weil‘s natürlich besser klingt als „Narbenliebhaber“.

Der Amerikaner Harry Crews, 75, Autor von zwei Dutzend Romanen und einigen anderen Werken, hat als ehemaliger Boxer, Marinesoldat und Dozent für kreatives Schreiben sicher einige Erfahrungen mit Wunden und Narben gemacht. Seine Sicht ist abgeklärt: „Alle Narben strahlen so eine gewisse Schönheit aus“, sagte er einmal, „denn eine Narbe bedeutet, dass der Schmerz vorbei ist, die Wunde ist geschlossen und verheilt.“

Die Verletzungen, die das Leben seiner Hauptfigur Pete Butcher zugefügt hat, sind jedoch nur scheinbar verheilt. Als Jugendlicher hat er bei der Arbeit mit einem Spitzhammer unabsichtlich seinen Bruder so schwer verletzt, dass er für immer debil wurde. Und seine Eltern kamen bei einer Autofahrt, die sie nur aufgrund dieses debilen Bruders unternahmen, ums Leben. Mit diesen Lasten hat Pete Butcher sich in eine Kleinstadt in den Sümpfen Floridas zurückgezogen, nachdem er sich nach seiner Zeit als Marinesoldat erfolglos an einem Studium versucht hatte. Ein Gestrandeter, ein Typ mit einem Zimmer in einer Pension. Der in einer Papierfabrik am Bahnhof mit dem Rasta George schuftet, den alle den „versengten Nigger“ nennen, weil sein Rücken von Brandnarben gezeichnet ist.

(Einblendung Steve Earle/Delta Momma Blues, New West Rec. NW6165)

Typisch für den Autor Harry Crews: er beschreibt Arbeit und Arbeiter sehr genau. Und ebenso typisch, dass er dem Leser die Hintergründe von diesem Pete Butcher nicht einfach so mitteilt. Es vergehen ein paar Dutzend Seiten, in denen man seine Verletzungen und sein enormes Gewaltpotential erstmal nur unterschwellig wahrnimmt, ehe man die Hintergründe geliefert bekommt. Das ist Crews‘ Kunst: dieses Gemälde aus harter Arbeit mit einem einsamen Mann wird nur langsam aufgeschlitzt. Sehr filmisch, ohne große Erklärungen. Nach der klassischen Regel: action is character.

Irgendwie hat sich also dieser Pete Butcher an seinem Fluchtpunkt eingerichtet, als er sich in die Tochter der Nachbarn verliebt. Womit die Einsamkeit, die in Ordnung war, ins Chaos überführt wird. Überall platzen Verwundungen auf: die Mutter kommt nach einer Brustkrebsoperation nach Hause und bedient sich als altmodisch-gute Christin plötzlich einer schmutzigen Sprache, die alle schockiert (fuck you und scheiß drauf und verdammt nochmal). Ihre Tochter projiziert nun in einer panischen Reaktion darauf den Brustkrebs der Mutter auf sich selbst. Und der Vater: er stirbt an einem Herzinfarkt, während er mit Pete einen Baumstamm durchsägt. Pete Butcher, auf der Flucht vor seinen eigenen Todesgeschichten, ist wieder von Verletzung und Tod umgeben.

Typisch Harry Crews: aus diesem Tod des Vaters entwickelt sich eine über 100 Seiten lange Slapstick-Nummer als Kernstück einer Tragikomödie, inklusive des Gags, dass die schon ins Beerdigungsinstitut eingelieferte Leiche unter nicht einfachen Umständen illegal wieder nach Hause zurückgeholt wird. Denn die nach der Brustkrebsoperation etwas übergeschnappte Mutter ist in den Bann der Rasta-Religion geraten, wie Pete Butcher verblüfft feststellen muss – sein Kumpel, der „versengte Nigger“ George und seine Frau Linga leiten das Ritual: der Tote wird in den Sümpfen verbrannt. Und die durcheinander geratne Witwe fühlt sich nicht schlecht:

(Einblendung Dub Specialist/Kampala, Soul Jazz Rec. SJRCD103)

„Auf Beinen, die vom langen Sitzen etwas wacklig waren, ging sie auf den runden Fleck zu, an dem das Feuer gewesen war, und griff den Schädel ihres Ehemanns wie eine Bowlingkugel. Sie krümmte die beiden mittleren Finger ihrer rechten Hand in die Augenhöhlen und ihren Daumen in das, was einmal die Nase gewesen war. In klassischer Bowlermanier hob sie seinen Schädel bis in Schulterhöhe und Pete wurde von dem Gedanken durchzuckt, dass es genau das war, was sie vorhatte: ihn zu bowlen. Aber das tat sie nicht. Sie sah sich um, sah sie alle an, und sagte, <ich glaube, der Job ist getan>. Sie nickte dem Schädel zu. <Ich nehme nur das. Den Rest können die Tiere von George haben. Ich denke mal, an den Knochen lässt sich trefflich kauen. Letztlich haben sie so auch noch Sinn: er kann mit ihnen ja nichts mehr anfangen>.“

Als „Southern Gothic“ werden Harry Crews‘ Romane in den USA oft bezeichnet, als Südstaaten-Literatur mit einer speziell unheimlichen, morbiden Färbung. Das passt zu seinem 1993 veröffentlichten Roman „Scarlover“ sehr gut: präzise Alltagsschilderungen des Hillbilly-Milieus, das sich in den verdrehten und verletzten Seelen der Protagonisten verzerrt; das explosive Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne: in diesem Fall biedere Unterschicht gegen magisch-bizarre Rasta-Religion. Abgelegene Orte, die nach alten Zeiten riechen, ein schwermütiger Klang und grotesk-bodenständiger Humor – das könnte das Motto des Romans sein, wenn die Rasta-Frau Linga Pete Butcher erklärt: „Ohne Gott kann man leben. Der, ohne den es nicht geht, das ist der Teufel.“ Der Harry Crews ein fieses Happyend diktiert hat.

Kein Wunder also, dass Nick Cave diesen Crews schon sehr genau gelesen hat. Der den „Scarlover“ seinem Freund Sean Penn gewidmet hat. Genug des Namedroppings von Crews verehrenden Großkünstlern – wer denn noch, Johnny Depp, Sonic Youth, Lydia Lunch! Dass Harry Crews hierzulande kaum bekannt ist, sollte sich mit der dritten deutschen Ausgabe endlich ändern.

Harry Crews: Scarlover. Roman. Aus dem Amerikanischen von Stefan Ehlert. Geb., 360 S., € 17,80. Verlag Mox&Maritz, Bremen 2011

 

 

 



WER KENNT CREWS? (Pt 1)

Heute nachmittag im Deutschlandradio/Büchermarkt mein Beitrag über „Scarlover“ von Harry Crews. Zunächst hier im Block mein ebenfalls dort vor einem Jahr gesendeter Beitrag über Crews´ Roman „Nackig in Garden Hills“:

STRIPTEASE DER VERLIERER

Als 2006 Harry Crews´ 23. Buch erschien, wurde in der New York Times mit hochgezogenen Brauen darauf hingewiesen, dass der 71-jährige sich „mit seiner fortlaufenden Saga aus dem harten Süden“ zwar nicht den „ganz großen Ruhm“ erschrieben hat, aber den Status Kultautor. Mal sehen, was der Kult hergibt. Verdächtig genug, dass der Verlag den „Kultautor“ nicht aufs Buch druckt. Tun die doch immer. Und was bei Crews kommt, würde für zehn normale Kultautoren reichen.

Der großartige Sean Penn bekam das Geld für die Verfilmung des Romans „The Knockout Artist“ nicht zusammen, und auch ein anderer Plan, für den er Crews als Drehbuchautor anheuerte, hatte kein Glück; Crews spielte eine kleine Rolle in Penns Regie-Debut „Indian Runner“ und widmete seinem Freund den Roman „Scar Lover“.

Die Verfilmung von „The Hawk is dying“ lief 2006 in Cannes. „The Gypsy´s Curse“ (mit dem Titel „Der Fluch“ ebenfalls im mox & maritz Verlag erschienen) wurde mit Harvey Keitel, Johnny Depp und Vanessa Paradis besetzt. Die Schauspieler konnten sich  mit mehreren Dokumentarfilmen über Crews und seinen Stoff informieren: „The Rough South of Harry Crews“, „Survival is Triumph enough“, oder, 1978 von Georg Stefan Troller gedreht, „Der Süden bleibt unverweht“.

In Andrew Douglas´ berühmter Road-Doku „Searching for the wrong-eyed Jesus“, die den untoten musikalisch-religiösen Wurzeln des White Trash-Südens auf der Spur ist, erzählt Crews Geschichten und bringt die Essenz mit einem Goethe-Zitat: „Es gibt kein  Verbrechen, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dessen schuldig zu sein“. Ein zerfurchtes Gesicht, dem man´s glaubt. Gut möglich, dass der englische Filmer auf ihn aufmerksam wurde, weil  Nick Cave, Henry Rollins und Lydia Lunch seit Jahren kräftig für Crews getrommelt hatten (der also neben den Rollins/Lunch-Büchern in diesem Verlag, der sich nicht mehr MirandA nennen darf, bestens platziert ist).

Um das unvollständig zu beenden, was man nicht aufzählen müsste, wenn sich da irgendwelche Leute an Crews gehängt hätten wie Ben „Kultpunk“ Becker an die Bibel: Mit Sonic Youth-Bassistin Kim Gordon hatte Lunch die Band „Harry Crews“; während der Tournee warb sie für einen Autor, „der ungefähr zehn meiner Lieblingsbücher geschrieben hat“, und ihr einziges Album nannten sie „Naked in Garden Hills“.

Mit seinem zweiten Roman hatte sich Harry Crews 1969 als Autor etabliert. 1935 geboren, war er in ärmsten und brutalen Hillbilly-Verhältnissen aufgewachsen und mit 17 zu den Marines ausgebrochen. In der Army hatte er erfolgreich geboxt und zu lesen angefangen, „alles von Mickey Spillane und Graham Greene“, von dem er „mehr als von jedem anderen Schreiber gelernt“ hat. Er war dann 30 Jahre lang Professor für Kreatives Schreiben an der Universität von Florida (so ernsthaft wie beliebt, heißt es), ohne seine Rough-South-Umgebung je zu verlassen; beide Seiten auf dem Oberarm sichtbar: unter einem Totenkopf das Cummings-Zitat „How do you like your blue-eyed boy, Mr. Death?“ Durch seine Bücher geistern Freaks, Kampfsportler, Hoffnungslose, religiöse und Maniacs jeder Sorte. Genre „Southern Gothic“: das mystische Geheul weitererzählter Geschichten, verzerrter Realismus, rauher Humor. Sein Ruf als harter Hund wurde auch von Drogen, Alkoholismus, persönlichen Tragödien gefestigt und Reportagen in Magazinen wie Esquire oder Playboy und –girl. Ein Fan hat Crews eine tonnenschwere, großartige Homepage gebaut, aus der man einen Truck voll klauen könnte, wenn man nach dem Lesen der beiden deutschen Bücher in dieses abenteuerliche Crewsland reingezogen wurde.

 

„Nackig in Garden Hills“ ist die Geschichte eines Südstaaten-Kaffs, dessen Bewohner nach Schließung einer Phosphat-Mine aufgerieben und dann von modernen Strukturen verdreht werden: die Arbeit geht, der Tourismus kommt. Und erledigt den Rest. Und bietet Chancen: Teenager Wydalia freut sich, sie wird in der zum Go-Go-Club umfunktionierten Werkshalle tanzen. Auch ihr Vater profitiert von der neuen Entwicklung: „Er arbeitete in seinem alten Loch mit dem Bohrgestänge, das Bohrgestänge freischaufeln, außer dass jetzt kein Bohrgestänge mehr drin war, aber da machte er sich nichts daraus“, denn er wird bezahlt für die sinnlose Arbeit und „es war Anlaß für Glückwünsche. Es war Hoffnung“.

Und seine Tochter erklärt ihm dann auch den Sinn: „Du bist im Showgeschäft, Pa! Du bist in dem Loch, damit die Touristen was zum Gucken haben“.

Das ist zum Davonlaufen aktuell, und aus der Komödie, die in der Bewegung vom ausgebeuteten, abgewrackten zum aufblühenden Landstrich steckt, zerrt Crews die bitterste Verliererkomik. Der amerikanische Traum eine Fata Morgana, seine Gespenster versammelt. Der 600 Pfund schwere, fresssüchtige Fat Man beherrscht das Dorf gutmütig, hält die wenigen zurückgebliebenen Bewohner mit falschen Hoffnungen bei der Stange. Hier „war er ein Held, außerhalb von Garden Hills war er ein Freak“, das Ergebnis monströs religiöser Eltern, manischer Sammler von Büchern, die er nicht liest.

Sein Allround-Assistent ist der Jockey Jester, den manche natürlich Zwerg nennen; er war in seinem ersten Rennen für immer gescheitert, bekam sich nie wieder „in den Griff, konnte sich selbst nur mit Bezug auf Pferd ermessen“ und war eine Jahrmarktsattraktion, als er auf einem Schaukelpferd saß und ins Wasser fiel, wenn ein Baseball die Scheibe traf. Sein Gebrüll zu den Pferderennen im Fernsehen erschüttert den Ort. Seine Geliebte Lucy hat er vom Zirkus mitgebracht, „sie tanzte auf einer Tretmühle, die in einen transportablen Steg eingebaut war, der in das braune Zelt der Slideshow führte“, in der sie, „abhängig davon wie tolerant die örtliche Polizei war, mit der Vagina eine Zigarette rauchte oder sich auf einer Matte niederlegte, wo dann ein imaginärer Liebhaber von ihr Besitz ergriff“.

In der Tretmühle stecken alle, die Freaks und die Normalen, deshalb weiß man nicht, wer nun wer sein sollte. Crews beschreibt sie als Einheit am letzten Außenposten. Die Deformationen von Freaks, sagt Crews, dessen Werk aufgrund persönlicher Erfahrungen voller Freaks ist, sind eben äußerlich sichtbar, was ihr Leben so stark prägt. Dann packt das Normale Garden Hills: die Verbindung mit Außenwelt und moderner Zeit, hergestellt von der ehemaligen „Phosphatkönigin“ Dolly.  Sie hatte nie eine andere Chance, als mit ihrem Körper Geld zu machen, und aus New York bringt sie rettende Ideen mit: Tourismus, Sex, Organisation. Sie entmachtet den unbeweglichen Fat Man, der sich in einem bizarren, mit seltener Intensität beschriebenen Finale ergibt, um zu überleben. Das Dorf ist ein Zoo, als Zentrum ein Club, in dem die Stripperinnen in von der Decke hängenden Käfigen tanzen. Und „jeder einzelne von ihnen hatte die erste Lektion in Sachen Organisiertheit bereits gelernt: Gehorsam. Und sie waren entschlossen ihr zu gehorchen, denn sie hatte versprochen, ihr zerstörtes Land wieder erblühen zu lassen“.

Crews schreibt diese Geschichte eines Orts und seiner Bewohner nicht mit den klaren Stücken des sozialkritischen Romans, sondern mit den sich nur langsam verdichtenden und nie vorhersehbaren Splittern des Thrillers. Vergangenheiten, aus denen immer wieder immer mehr auftaucht, eine Gegenwart, die nach jeder Hoffnung dunkler wird. Geschrieben mit einem unheimlichen Unterton. Vergiss es, wenn du glaubst, du hast es im Griff, und wenn du glaubst, es wird besser. Könnte das heißen. In einer melancholischen Stimmung versinkt das Buch dabei nicht. Es ist etwa so, wie es der körperlich angeschlagene Crews dem New Yorker Reporter 2006 erklärte: „Es ist Zeit zu sterben, aber ich fühle mich nicht wie ein Sterbender. Ich fühle mich die ganze Zeit gut. Außer wenn nicht“.

Nach zwei Büchern bin ich mir sicher, dass Harry Crews zu den Besten der amerikanischen Literatur gehört. Und wenn Verleger Stefan Ehlert im Moment nicht mehr Bücher von Crews´ versprechen will, aber… dann ist das doch mal eine gute Nachricht. In diesen Zeiten. In denen sie ihr verdammtes Geld besser in so einen Verlag werfen sollten.

Harry Crews: Nackig in Garden Hills. Aus dem Amerikanischen von Stefan Ehlert, mit Illustrationen von Tobias Bornweilder. 224 S., mox & maritz, 2009