Literatur

JEAN AMÉRY

starb am 17. Oktober 1978 – „Mit einer Überdosis Schlaftabletten vollzog Jean Améry im Oktober 1978 den Suizid, der vier Jahre zuvor noch gescheitert war, weil ihn ein Freund in letzter Minute gefunden und ins Krankenhaus ­hatte bringen lassen. Sein Freitod war die zum Äußersten getriebene Konsequenz aus den »unauflöslichen Widersprüchen der condition suicidaire«, die der Auschwitz-Überlebende in seinem 1976 veröffentlichten Buch Hand an sich legen beschrieben hatte“, schreibt Jérôme Buske in der aktuellen Jungle World.

„Minutiös bereitet er alles vor“ (im Östereichischen Hof in Salzburg), schreibt Irene Heidelberger-Leonard in ihrer Améry-Biographie, „seine Abschiedsbriefe liegen bereit: In schönster Handschrift entschuldigt er sich bei der Hotelleitung, weil er ihr <Ärgerlichkeiten> bereite (…) Er wurde erwartet, nicht nur in Mannheim, auch zur Messe. Als die Nachricht aus Salzburg in Frankfurt einschlug, hielt die Frankfurter Bücherwelt eine Sekunde lang den Atem an (…) Ironie der Ironie: Allein die BILD-Zeitung verleiht ihm das Epitaph, das er so ersehnt hatte: <Selbstmorddichter Améry lag tot im Hotel – vergiftet!>“

In mein Exemplar von Hand an sich legen schrieb ich auf die letzte Seite „7. Dezember 1978“ (und könnte es auch so sehen, dass es der Beginn von vielen Ärgerlichkeiten war). Auf Améry war ich über einen Artikel des Spiegel-Journalisten Christian Schultz-Gerstein gekommen, dessen Buch Der Doppelkopf über den Widerstandskämpfer und Auschwitz-Häftling und über seinen eigenen Nazi-Vater dann ein Jahr später im März-Verlag erschien. Ob Schultz-Gerstein 1987 Selbstmord beging oder an Kreislaufversagen starb, konnte nicht geklärt werden. Bei Edition Tiamat erscheint demnächst eine erweiterte Neuausgabe seiner Arbeiten mit dem Améry-Interview.

Das Gesamtwerk von Jean Améry (und die Biographie) bei Klett-Cotta. Es konnte und kann die Ärgerlichkeiten da draußen nicht beseitigen. Aber es hilft.



DER DRECKSACK HAT GEBURTSTAG

und er ist nicht ein Drecksack, sondern eine hervorragende Literaturzeitschrift, die übrigens auch ein guter Härtetest ist, da müssen Sie einfach nur mal Ihre LiteraturdozentInnen oder Buchhändler*innen fragen, ob sie sie, den Drecksack kennen. Wenn nicht, sollten Sie deren fachliche Kompetenz auch mal hinterfragen, wenn nicht sogar hintergehen, oder besser hintertreiben?



MARGE PIERCY IS ONE

of the greatest writers on this planet, und die 85-jährige US-Amerikanerin (ganz anderer Herkunft) hat den Nobelpreis schon seit Jahren verdient, was ich beurteilen kann, weil ich ca. 2500 Seiten von ihr gelesen habe, nicht nur „Menschen im Krieg“, den besten Roman über den Zweiten Weltkrieg.

Kürzlich erschien im Neuen Deutschland ein langes und großartiges Interview mit ihr. Den Anlass (Texas) verdeutlicht dieser Auszug: „Zunächst möchte ich betonen: Mein erstes Gefühl nach der Abtreibung war Stolz auf mich selbst, darauf, dass ich das hinbekommen hatte. Ich habe mich in keiner Weise schuldig gefühlt. Es kam einfach nicht infrage, ein Kind in das Leben zu setzen, das ich damals hätte führen müssen. Ich wusste doch, wie es Frauen aus dem Arbeitermilieu erging, entweder heirateten sie oder saßen mit einem Haufen Kinder alleine da, weil der Mann abgehauen war. Viele mussten von Sozialhilfe leben oder Sexarbeit machen.“

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155794.marge-piercy-eine-nasenlaenge-vor-den-pinkertons.html

In ihrem frühen Roman „Braided Lives“ (deutscher Titel leider „Donna und Jill“) erzählt sie nicht nur von Abtreibungen und Frauen aus unterschiedlichen Milieus, sondern auch von der frühen Rock´n´Roll- und Rockabilly-Szene der 50er-Jahre, wovon außer Jack Kerouac wohl kaum jemand, der aus der Buchstabensuppe was rauszuholen versuchte, so viel Ahnung hatte wie sie. (Über die erwähnten Romane habe ich für eine längst abgeschaffte Rundfunksendung geschrieben und würde die Texte hier bringen, wenn ich sie nicht a) suchen und b) abtippen müsste).



AUCH AM NATIONALFEIERTAG

erscheint ein neues Buch, das allerdings zur Feier wirklich passt:

Keine Fotobeschreibung verfügbar. „jetzt bestellen, z.B. beim Ventil Verlag: https://www.ventil-verlag.de/titel/1882/kritik-am-mitmensch / „Wir sind nicht alleine auf der Welt. Wir teilen unseren Lebensraum mit den Mitmenschen. Und da beginnt auch schon das Problem!“ Lautet die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse von Ferdinand Führer und Roland van Oystern, die sie in Titanic veröffentlicht haben, jedoch nicht „in edler Aufmachung“ und ohne Zeichnungen von lisbert.



DER MONAT BEGINNT

wie immer nicht schlecht, wenn man sich eher für minderwertige Literatur interessiert, also verglichen mit all dem Schöngeistigen da draußen:

http://culturmag.de/category/crimemag

Mit einem Beitrag des grand ol man der deutschen Kriminalliteratur, Frank Göhre (dessen neuen Roman ich in der Hand halte, um endlich was Vernünftiges zu machen):

http://culturmag.de/crimemag/frank-goehre-wenn-glauser-und-simenon-einen-kriminalroman-schreiben/137452

Frank Göhre: Die Stadt, das Geld und der Tod Abwärts



DER NEUE MÄRZ

Verlag – das ist eine sensationelle Meldung aus der Buchbranche: „Nun kehrt der März Verlag in die Gegenwart zurück. Barbara Kalender hat mit Richard Stoiber, langjähriger Lektor bei Matthes & Seitz Berlin, einen neuen Verleger für den März Verlag gefunden. Im Frühjahr 2022 soll das erste Programm der neu gegründeten März Verlag GmbH erscheinen.“

Eine Meldung, von der ich auch deshalb betroffen bin, weil ich 1999 von Jörg Schröder & Barbara Kalender mit dem Preis „März-Efeu“ für mein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, und darauf bin ich nicht nur extremstolz, sondern viel mehr geht ja nicht in Germanistan (auch wenn ihre Buchhändler*in was anderes sagen möchte).

https://buchmarkt.de/menschen/es-herrscht-aufbruchstimmung/?fbclid=IwAR06bd4XX-IB1hk-2RsYn36pSwg1iq96BSroY7REL6ZeVxydjobUBwtb5X0

Fräulein Julia: Popkultur par excellence



CHARLIE HEBDO No.1517

feuerte in der Ausgabe vom 18.8. diesen Literatur-Witz ab, den ich hier ziemlich korrekt übersetze:

Mann1: Man hat tausende Seiten von Céline wiederentdeckt!

Mann2: Genial! Gut, ein bisschen antisemitisch, nebenbei bemerkt.

Frau1: Aber nicht antifeministisch. 

Mann3: Und nie transphob!

...

 



ES GEHT VORAN

Ist möglicherweise ein Bild von außen und Baum

foto c frank schäfer



WIR BEANTWORTEN WIE IMMER AUCH

die schwierigsten Fragen gerne im Kummerkasten unserer Problemlösungsabteilung: „Kann man in der Sprache, wie sie der Zeitgeist fordert, überhaupt noch – aus dem Vollen schöpfend, nach Wahrhaftigkeit strebend – literarische Texte verfertigen?“, fragt Matthias Politycki in der FAZ (laut Perlentaucher, 17.7.).

Antwort: Nein, wenn man in diesem Trichter gelandet ist – und es stünde um die deutsche Literatur sehr viel besser, wenn mehr Autor***innen sich für ein klares Nein entscheiden könnten. Für diesen Autor kommt die helfende Antwort wohl zu spät, er flüchtet nun nach Wien, heißt es, ein weiterer Leidtragender in der erschreckend langen Reihe deutscher Vertriebenen. Beruhigend ist nur die altbekannte Weisheit: Wien bleibt Wien.



EINE STARKE GESCHICHTE

zum 100. Geburtstag von Walter Benjamin, geschrieben und ausgegraben von Jonas Engelmann:

https://jungle.world/artikel/2020/35/der-engel-wird-100

„»Das Bild beginnt, sich zu zersetzen«, erklärte mir eine Museumsmitarbeiterin vor ­einigen Jahren, als sie mich in die Depoträume begleitete. Kein Wunder, dass das Aquarell mittlerweile angegriffen ist; nicht viele Bilder ­haben eine vergleichbare Kontinente übergreifende Geschichte: Es wurde versteckt, verschifft und eingenäht in ein Jackett über Ländergrenzen geschmuggelt. Walter Benjamin erwarb das Bild im Frühling 1921 in der Galerie Hans Goltz für 1 000 Reichsmark, als er seinen Freund Gershom Scholem in München besuchte.“

Walter Benjamin – Wikipedia