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MANSON MIXA REMIX

Das Kind war das Ideal von Charly Manson und seiner Familie. Denn auf dem Kind an sich lag nicht der Fluch der Kultur. Denn die Kinder handelten spontan aus der Seele heraus.

So war das Kind das wichtigste Glied in der evolutionären Kette des Lebens nach Mansons Meinung. So war Charly ein Fan der Fortpflanzung. So waren in seiner Familie jede Form von Verhütung oder Vasektomie verboten.

Nicht selten erzählte Charly, der sich selbst auch als Man Son erkannt hatte, in seinen Predigten, dass die Frau keine Seele habe. Frauen waren überbewusste Sklavinnen, deren Pflicht darin bestand, Kinder zu bekommen und dem Mann dienlich zu sein.

Dem Schicksal gefiel es jedoch, dass es in der Familie Man Son entgegen jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung zu sehr wenigen Schwangerschaften kam, und in große Wut geriet darüber oft der Man Son.

Gelegentlich war er auch in Stimmung und befahl den besten unter seinen Mädchenjüngern, ihn an einem Kreuz zu befestigen. Sodann durchlitt der Man Son die Leiden Jesu Christi, und eines seiner Mädchen kniete vor dem Kreuz, und er stöhnte und schrie, und es wurden Tiere geopfert und ihr Blut getrunken, um dem Wunsch der Familie nach Fruchtbarkeit Ausdruck zu verleihen.

Mansons sehr persönlich gefärbte Interpretationen des christlichen Glaubens erregten auch bei deutschen Philosophie- oder Theologie-Studenten Aufmerksamkeit, die sich etwa 1968 oder 1969 zu einem sogenannten Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten befanden.

Einer, vielleicht der ernsthafteste von ihnen, predigte viele Jahre später seiner viel größeren Man Son Gemeinde, sie möge sich gegen die atheistischen Tendenzen in der Gesellschaft auflehnen. Denn die Hölle auf Erden sei eine gottlose Gesellschaft.

Das brachte auch etwas Freude in die karge Zelle, in der Charly Manson nun seit ebenso vielen Jahren saß. Und er küsste seinen Siegelring und betete um Frieden und Versöhnung im Zeichen des Kreuzes, an dem auch er gelitten hatte.



ES IST FURCHTBAR

nett, dass ich so oft eine Einladung bekomme, jemandes Freund im Facebook zu werden. Aber ich bin dort nicht. Und habe nicht den Eindruck, ich sollte mich um eine Einreisegenehmigung bemühen.



MISTER & MISSIS.SIPPI AM TV

sollte niemand mit entsprechendem Interesse verpassen. Vom 3.-5.4. jeweils 20.15 auf 3sat. Mein Artikel dazu in der jungen Welt vom 3.4.:

AUF DEM MISSISSIPPI NACH MARK TWAIN Volker Strübings Abenteuer als TV-Serie und Buch.

Am 21. April jährt sich der Todestag von Mark Twain zum 100. Mal. So kam die Berliner Filmproduktion MonstaMovies auf die schöne Idee, die Mississippi-Floßfahrt von Huckleberry Finn und seinem Freund Jim neu zu inszenieren. Den 3-Teiler, der vom 3.-5. April um 20.15 Uhr auf 3sat läuft, sollte man nicht verpassen.

Für alle TV-Hasser hat Drehbuchautor Volker Strübing, zudem Co-Regisseur und Hauptdarsteller des potentiellen Straßenfegers, auch das Buch „Mister&Missis.Sippi“ bereitgestellt; nur dort bekennt der Berliner Autor, abenteuer-erprobt durch viele Einsätze bei Lesebühnen und eine Antarktis-Expedition („Nicht der Süden“), was alle Couch-Kartoffeln unter den Autoren beruhigen wird: das Buch war der härtere Job.

Aber wenn man wenige Sekunden nach Beginn des ersten Teils das Floß sieht, das von der Quapaw-Canoe-Company für die 2000 Kilometer lange Fahrt von St. Louis bis New Orleans gebaut wurde, werden sich viele genau wie ich denken: Jesus, ohne mich! Lieber schreibe ich für Bild! Minuten später verüben Naturgewalten den ersten Überfall auf Floß- und Filmcrew, und man glaubt´s, wenn ZDF-Morgenmagazin-Moderatorin Patricia Schäfer, die mit Strübing durch den Film führt, sagt: „Eine Reise auf dem Mississippi ist eben keine Butterfahrt.“ Auf die Frage, warum auf dem Strom außer riesigen Transportern keine Spuren von Menschen zu sehen sind, hat Kapitän und Floßbauer John Ruskey eine einfache Antwort: „Die Leute haben Angst.“

So schippern sie runter, geplagt von Sonne und Moskitos, beseelt von Naturschauspielen, Lagerfeuerabenden und Abstechern an Land. Wo man die Qualitäten der Serie schnell erkennt: die Balance zwischen Geschichte und Gegenwart, Twain-Echo und den angenehm durch die Gegend laufenden, kommentierenden, interviewenden Schäfer&Strübing. Man hat genug Zeit für Gesprächspartner, liefert nicht die bekannten Bilder: in New Orleans gibt’s keinen Jazz, aber das Portrait einer Drag Queen. Und ausführliche Informationen darüber, wie der Hurrikan Katrina genutzt wurde für den Versuch, Sozialprojekte und missliebige, also arme Bewohner buchstäblich aus dem Stadtbild zu entfernen. Patricia Schäfer wird in Memphis zwar in einem 1955-er Cadillac herumchauffiert, aber nicht nach Graceland, während man sich fragt, warum Strübing eine Kurzausbildung bei der Müllabfuhr bekommt, ehe man erfährt, dass Martin Luther King sich vor seiner Ermordung mit streikenden Müllarbeitern solidarisch erklärte, während die blonde Patricia bei der Burlesque-Truppe Memphis Belles gestylt wird, nachdem sie den Ausführungen eines afroamerikanischen Richters über Rassismus damals und heute zugehört hat.

Das ehemals blühende Städtchen Cairo ist heute abgewrackt, aber plötzlich sieht es so aus, dass man nirgendwo anders sein möchte. Wegen der Leute vor allem. Eine Polizistin gibt ein offensichtlich nicht eingeplantes, langes, großartiges Interview. Auch das ist eine Qualität des Films, dass er nicht nur vielen Bildern unkommentierten Raum gibt, sondern allen Leuten genug Zeit, um sich auszudrücken; eine Lektion über diese einfachen Leute, die kluge Sachen sagen. Sogar der allzu typische, biedere Waffenhändler („guns don´t kill people, people kill people“) verleitet Strübing zu einem flappsigen Kommentar im Sinne Mark Twains, der meinte, Reisen sei gefährlich für „Vorurteile, Bigotterie und Engstirnigkeit.“

Es gibt eine starke Nebenfigur im Film (wie der Bob Dylan, der durch Sam Peckinpahs „Pat Garrett&Billy The Kid“ geistert), der Zeichner Matthias Seifert. Und der hat im Buch mehr Platz als im Film. Zum Glück. Denn Autor Strübing hatte nach all den Dreh- und sonstigen Filmarbeiten zu wenig Zeit, und gibt das auch zu: „Es gäbe noch jede Menge zu schreiben.“ Sein Buch ist gegenüber dem Film nur skizzenhaft, hängt zu lang an den Vorbereitungen, Nebenschauplätzen, baut nicht den Bogen, den der Film so toll schafft. Hätte die Äußerungen der Polizistin aus Cairo einfach abdrucken sollen. Aber: großer Auftritt des Zeichners Seifert. Und weil Strübing ein Autor ist, den man einfach gerne liest, selbst wenn er sein Thema eher umgeht, ist das Buch mit CD, auf der er liest, empfehlenswert, ein besonderes Ding eben.

Für Buch und Fernseh-Serie gilt, was der Fahrer des Cadillac in Memphis zu Patricia sagt: „Wenn du dir keinen Psychiater leisten kannst, kauf dir eine Flasche Whisky und geh in einen Blues-Club.“

Volker Strübing: Mister&Missis.Sippi. Buch/CD, mit Zeichnungen von M. Seifert, Verlag Voland&Quist, 176 S. Die Serie auf 3sat: 3.-5.4. jeweils 20.15 Uhr

 



DIE GROSSE MARTIN WALSER-VERAR

schung „Der Literaturverweser“ von Carl Wiemer bei Edition Tiamat ist im Rennen um den deutschen Oscar für das böseste Buch 2010 mein Favorit, und auch in den Kategorien „witziges Buch“ und „krankes Theaterstück“ wird es nicht leicht übertroffen werden können.

Wenn Wiemer Walser (hier: Alwin Raser) nur so halbwegs angreifen, parodieren und in den Kakau zerren würde, hätte ich´s nicht länger als vielleicht 10 Seiten gelesen, weil´s ja dann inzwischen abgehakt wäre, aber sein „Stück über Vernichtungsgewinnler“ tritt zielgenau mit Verve und komischsten Drehungen und intelligenten Finten unter die Gürtellinie. Dabei übrigens ein so lesbares Stück wie Prosa; „Stück“ ist eher eine Verkleidung, die aber auf der Bühne eine sagen wir z.B. Riesen-John-Waters-Nummer wäre mit seinen vier großen, naja zumindest wirkungsvollen Frauenrollen. Man verrät nicht zu viel, wenn man erwähnt, dass drei von ihnen wie Vater Alwin Raser schreiben, genauer gesagt: Bücher veröffentlichen, auf denen ihr Name steht…

98 Seiten, die eine vollkommen durchdrehende Menge am Roten Teppich verdient haben und bekommen müssen. Ob der deutsche Feuilleton- und Literaturbetrieb erkennt, dass hier eine 3-läufige-Schrotflinte auch auf ihn gerichtet ist, ist dabei nicht ganz so wichtig.



AUS LEIPZIG

erstmal dieser schöne Essay:

Frage: Wollen Sie schockieren oder schockiert Sie die Welt?

Antwort Carl Weissner: Weder – noch.

Von Weissner neu „Manhattan Muffdiver“ (Milena Verlag), also nichts für jeden, aber sehr zu empfehlen.

Am 25.3. muss ich in den Münchner Kammerspielen mit ihm in den Ring steigen. Keine leichte Sache. Und Heiko Werning ist dabei mit seinem neuen Buch „Mein wunderbarer Wedding“ (Edition Tiamat). Mehr kann man nicht wollen. Als mit diesen Kollegen in den Ring zu gehen. Take that.



DIE DREI TRAURIGSTEN ROMANE

die ich kenne. Geschrieben, auch stilistisch, als No-Way-Out. Die ich so schnell niemandem, nur weil ich sie gut finde, geben würde:

Buddy Giovinazzo: Cracktown

Hans Frick: Die Flucht nach Casablanca

Philip Roth: Jedermann

 



AUSSAGE BTR POLANSKI

„The Family“, Ed Sanders´ Bericht über Manson und seine Jünger, holte ich aus einem Regal. Zwei Blätter flogen raus. Ein Artikel von Ralf Brunkow/Edmund Brettschneider aus der Neuen Revue vom 13. März 1978 (S.16-18) mit dem Titel GEHEIME AKTEN ENTHÜLLEN, WAS POLANSKI WIRKLICH GETAN HAT. Was es mit den „geheimen Akten“ auf sich hat(te), wie das Magazin an diese kam, wie ich an das Magazin kam, darüber kann ich nichts sagen.

Im Artikel wird eine Aussage zitiert, die mir (heute) völlig neu ist: „Die Zeugin Angelica Huston, eine Freundin von Jack Nicholson, berichtete: ‚Als ich in Jacks Haus kam, hörte ich die beiden im Schlafzimmer und rüttelte an der Tür. Roman schloß auf und sprach kurz mit mir, dann schloß er wieder ab, und die beiden blieben noch eine Weile drin. Später im Wohnzimmer benahmen sich Roman und Samantha sehr verliebt und schmusten miteinander. Nie hätte ich gedacht, daß sie erst 13 war. Sie sah aus wie alle diese lebensgierigen Dinger hier in Los Angeles von 18-25 – aber nicht wie ein verängstigtes kleines Mädchen‘.“

 



KATHY ACKER

muss man natürlich gelesen haben bzw. lesen, wenn man sich für moderne Literatur interessiert, auch wenn man nicht in einem Plagiatsprozess als Zeuge aufzutreten hat. Dabei ist keine schlechte Voraussetzung, wenn man ein Gegner der Sitte ist, dass  z.B. Homosexuelle mit Steinen zu Tode befördert werden sollten, um ihnen vermeintlich ordentliche Sitte beizubringen; falls ihr wisst, was ich meine.

Ein toller Orden, den die viel zu früh verstorbene Kathy Acker (1947-1997) bekam, war die Vertonung von „Pussy, King of the Pirates“ durch die Mekons.

Alles, was an Kathy Acker erinnert, die inzwischen doch fuckin viel zu sehr in Vergessenheit geraten ist (und im deutschen Bereich überlagert wird von z.B. Ärzten, die offensichtlich zuviel Freizeit haben und deshalb in dieser Texte/Bücher schreiben),  ist gut.

Auch bizarre Gimmicks in Erinnerung an Kathy A. sind gut, z. B. die ziemlich erfolgreiche neue Inszenierung von Frank Castorf. Mehr gibt es zum Fall „Häkelmann“ (wie wir vom Kathy A.-Fanclub von den Trinkhallen und Imbissbuden und Diskotheken, die Kindern keinen Eintritt gewähren, ihn nennen),  ehe wir uns mit der Literatur-Marketing-Abteilung zu Tode langweilen, nicht zu sagen.

Einfacher formuliert? Haha.

Eine so umfassende wie großartige Darstellung der literarischen Technik „Cut-Up“ hat Dr. Sigrid Fahrer veröffentlicht: Cut-Up / Eine literarische Medienguerilla. 260 S. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.

Lassen wir mal den Zufall einen Pass (in die Tiefe des Raums) schlagen und klappen das Werk auf: „Die Literatur sieht sich zunächst mit generellen Zweifeln an ihrer Wirkungskraft konfrontiert, gekoppelt an den Vorwurf, vom Elfenbeinturm aus zu agieren (397). Bei Cut-Up entzündet sich diese Kritik hauptsächlich an der experimentellen Form, die sich jeder Benutzerkompatibilität entziehe und die sich der ‚Ich-Süchtelei‘ verdächtig mache …“.

Was also tun? Warten. Warten auf Carl Weissners Roman Manhattan Muffdiver, der vermutlich in dieser Sekunde vom Milena Verlag ausgeliefert wird. Auszug aus dem Katalog: „Ich habe ein neues Stammlokal, eine Straße hinter dem Edgar Allan Poe Café. Es nennt sich NO PORK ON MY FORK, d.h. es ist eine Islamistenkneipe. Ich komme also reingeschlendert und sage: ‚Tach, ihr Windelköpfe. Ich bin euer lokaler Provokateur von der Politischen Polizei, der euch zu was anstiften soll. Ich finde, wir sollten den Trump Tower in die Luft jagen. Was haltet ihr davon, hm?“



DRESDEN

Der lukrativste Markt für den Dichter – abgesehen von den Coups, bei denen sich die Dichtungspolizei zu dumm anstellt, um dich einkassieren zu können – ist das Anlass-Gedicht (gibt einen Fachausdruck, den ich nicht kenne).

Bei mir ist es so, dass ich mich auf Städte spezialisiert habe. Praktisch sieht das so aus: das Kulturamt der Stadt BWL ruft mich an und bestellt ein Gedicht über ihre Stadt. Ich sage okay, fuffzehnhundert, und ca. 24 Stunden später haben sie ihr Ding. Bei der Länge vereinbare ich immer „mindestens 10 Zeilen, wobei die Leerzeilen mitzurechnen sind“.

Angefangen habe ich mit diesem auch nicht zu verachtenden Service, nachdem ich vor zwei Jahren mit diesem Gedicht angefangen und es auch gleich Erfolg gehabt hatte:

DRESDEN

Ach, du schöne Elbestadt / muss leider dir gestehn / meine bescheidene Ansicht.

Es war schon / okay & allright / dass die Bomben / am 13. Februar 1945 / über dich kamen

deine Schönheit / nur in den Schatten gestellt / von der schönen Eva Braun / neu gestaltend.

 



AUFRÄUMEN

ist soeben bei btv als Taschenbuch erschienen, ohne dass ich am Original (Kunstmann Verlag, 2008) etwas verändert hätte; im Gegensatz zu Gedichten und Short Stories, wo ich bei jedem Neuabdruck mehr oder weniger viel verändere, kann ich das bei Romanen nicht bzw. habe sogar eine innere Stimme, die das nicht erlaubt (und wer bin ich, dass ich sie ignorieren könnte?). Aber ich habe speziell für das Taschenbuch ein Nachwort geschrieben (das sich hier im Block einige technische Freiheiten rausnimmt, die ich nicht beheben kann):

EINE FUCKIN GERMAN IDEE

Aus Alienation ein Bericht von Johnny Metal :/: Im November 2006 habe ich angefangen diesen Roman zu schreiben, den ich nur ein paar Wochen im Kopf getragen hatte, und nach wenigen Seiten war der Titel glasklar. Als einige Mitarbeiter des Kunstmann Verlags die ersten 25 Seiten gelesen hatten, fanden sie auch, dass der Titel genau passte.

Mein Titel war „Strom“. Er hatte mich gepackt, als hätte ich eine Messerspitze in eine Steckdose gesteckt. Ich fand, er passte auf allen Ebenen, und vor allem passte er ideal zum Stil und der Atmosphäre, um die es mir ging; der Roman ist aus einer Vorstellung von Stil und Atmosphäre entstanden und nicht aufgrund eines aktuellen Ereignisses.

Einige Monate später setzte der Verlag einen Lektor auf mich an. Nicht irgendeinen, sondern einen speziellen, und die Idee begeisterte mich sofort. Nicht nur, weil ich Dr. Michael Farin seit vielen Jahren kannte und schätzte, als Person, Forscher, Autor und Verleger, sondern weil ich ein Buch aus seinem Verlag belleville schon in meinen Roman eingebaut hatte: „Amok“ von Lothar Adler, München, 2000. Ich weiß, dass einige Leser und Kritiker dachten, dieses Buch, das Beat beschäftigt, wäre meine Erfindung. Aber nein; und auch die Entstehung von „Alienation“ aus „Alienisation“ habe ich nicht selbst gefunden, sondern vom Zufall geklaut.

„Amok“ ist eine streng wissenschaftliche Studie, deren Ergebnisse und Überlegungen nicht leicht zu lesen und verstehen sind, wenn man selbst nicht vom Fach ist, und deshalb war meine erste Bitte an Dr. Farin, diese Stellen, die ich zum Teil zusammengefasst und manchmal auch meinem Stil angepasst habe, auf ihre inhaltliche Korrektheit zu überprüfen.

Das erste, was Dr. Farin zu mir sagte, war jedoch dies: „Dein Titel geht nicht, Strom gibt´s schon“. „Nein!“ „Doch“. Ich war am Boden. Aber es wurde noch schöner: der Gedichtband „Strom“ ging auf das Konto von Helmut Krausser, von dem der Doc, wie wir ihn nennen, nicht nur viel verlegt hat, sondern der auch ein langjähriger Freund von mir war. Krausser lachte, als er von der Sache hörte, und als wir uns dann trafen, konnte ich auch darüber lachen, musste aber sein Angebot, den Titel dennoch zu benutzen, natürlich in den Wind schießen.

„Der Titel ist mir jetzt total egal“, sagte ich zum Doc und arbeitete weiter. Bis der Doc eines Tages sagte: „Du hast ´nen tollen Titel, du hast ihn schon hingeschrieben“. „Auch okeh“, sagte ich, ohne zu verstehen, was er meinte, denn ich studierte gerade die Seiten 145 und 146 der 4. Auflage der deutschen Ausgabe von Leo Rostens „Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie“ (von 638 Seiten) und lachte mich (was Wunder, es ist eines der lustigsten Bücher, die auf diesem Planeten je geschrieben wurden) kaputt über den Begriff „Cholíle“ und die Beispiele dazu. Und wusste: das gefällt Kossinsky. Dem Mann, den ich komplett erfunden habe. Naja, nagut, ganz komplett auch wieder nicht. Aber das ist nun zu kompliziert für einen kleinen Bericht aus Alienation. Soviel kann ich sagen: wer die Bücher von Hans Frick (1930-2003) liest, kann da und dort ein wenig mehr über Kossinsky erfahren.

„Aufräumen“, sagte Dr. Farin. Der mir auch sonst sehr behilflich war. Viel mehr als die meisten anderen Doktoren heutzutage. Leider konnte er jedoch einige Fragen nicht für mich beantworten.

Die einfachste war noch die: warum haben Sie, wurde ich von mindestens zwei Leuten gefragt, nach dem ersten Roman – „Tollwut“ (ebenfalls bei btv erschienen) – 17 Jahre gebraucht, um einen zweiten zu veröffentlichen? Ich war a) meistens gut beschäftigt, oder b) musste mich gut beschäftigen, hatte mich außerdem c) mit einigen Romananfängen schnell gelangweilt und verweise d) auf mein Prosastück „Romanterror“ (in: „Sprung aus den Wolken“, Hamburg 1996), das sich e) etwa so grob zusammenfassen lässt: in einen Markt, in den sich jederzeit jeder Idiot nur aus Prinzip und weil der Markt das am liebsten hat mit einer mindestens 400-Seiten-Geschichte hineinschleimt, die schon mit 50 Seiten genug ausgewalzt wäre, muss ich mich nicht auch noch jederzeit mit einer etc. hineinwerfen und so tun, als hätte die Literaturarbeit nichts anderes zu bieten. Ja, ich habe den Eindruck, dass die Gefahr, bei permanenter Romanschreibarbeit leicht zu verblöden, doch etwas unterschätzt wird. Wobei man schon auch erwähnen darf, dass Johnny Metals Hobby die Selbstverteidigung ist. Wenn man keine Panzerfaust dabei hat, sollte man ihm nicht in die Quere kommen.

Die Zeit ist um. Ich habe in diesen Tagen nicht viel Zeit für Nachworte und andere Spielchen. Ich sitze seit Tagen neben dem Briefkasten und bin weder ansprechbar noch schlafbereit. Ich warte auf meinen neuen Gedichtband. Den Titel – „Ich fühlte mich stark wie die Braut im Rosa Luxemburg T-Shirt“ – musste ich diesmal ohne den Doc finden. Was kann ich dazu sagen? Wer in diesem Roman die Grabinschrift mochte, wird im Gedichtband eine schönere finden.

Das sind die besten Tage, die ein Schreiber haben kann. Es sind die einzigen Tage, die in dieser Branche wirklich Freude bereiten. Man wartet auf etwas, von dem man weiß, es ist so gut wie nichts zuvor. Und für ein paar Minuten wird es dann auf diesem Planeten nur noch diese Blätter geben, die du beschrieben hast, und alles, alles, alles ist gut.

9-11-2009, 12:18 p.m.