„Aus gegebenem Anlass (#01) ein mittellanger Exkurs zu dem, was die „Grauen Wölfe“ sind – und dazu, was sie auch, kaum, weiterhin, nicht und inzwischen sind. (Wie gestern auf Twitter, aber ausführlicher. Und mit Bildern. Dafür die Fotos durchklicken.)
Zunächst eine Begriffsklärung: Die Bezeichnung „Grauen Wölfe“ ist eher im Ausland verbreitet, in der Türkei geläufiger ist die Eigenbezeichnung Ülkücü („Idealisten“), die sowohl allgemein die Bewegung bzw. Denkrichtung meinen kann als auch die „Idealistenvereine“, den Jugendverband der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Ich verwende hier Graue Wölfe und Ülkücü synonym.
Die Grauen Wölfe sind rechtsextrem, aber als „Aggregatzustand der türkischen Rechten“ (Tanıl Bora) neben Konservativismus und Islamismus ein anerkannter Teil des politischen Establishments.
Tayyip Erdoğan regiert spätestens seit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 in einer informellen Koalition mit der MHP. Die MHP stellt keine Minister, hat aber zahlreiche Kader im Staatsapparat verteilt. In dieser informellen Koalition repräsentiert sich die MHP selbst, fungiert aber auch als Stellvertreter des alten Staatsapparats, mit dem sich Erdoğan versöhnt hat.
Allerdings ist dies nicht die erste Regierungsbeteiligung der MHP. In den späten 70ern bildeten der Konservative Süleyman Demirel und der Islamist Necmettin Erbakan zwei offizielle Koalitionsregierungen mit MHP-Chef Alparslan Türkeş (Regierungen der „Nationalistischen Front“, #02); Ende der 90er regierten der Sozialdemokrat Bülent Ecevit und der Konservativ-Liberale Mesut Yılmaz mit dem heutigen MHP-Chef Devlet Bahçeli (#03).
Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit im damals noch mächtigen Parlament verlor, zeigte sich selbst die linke/prokurdische HDP offen für eine Zusammenarbeit mit CHP und MHP (z.B. in Form einer geduldeten Minderheitsregierung). Nur Devlet Bahçeli lehnte strikt ab – der Beginn seiner Annäherung an Erdoğan.
Ein Teil derer, die sich heute als Graue Wölfe verstehen, ist in der MHP und mit Erdoğan verbündet. Ein anderer Teil der Ülkücü-Bewegung, die von Meral Akşener (#04) gegründete „Gute Partei“ etwa, steht in Opposition zu Erdoğan.
Nicht alle Ülkücü sind parteipolitisch organisiert, es gibt auch nicht-organisierte, eher popkulturell mit den „Grauen Wölfen“ verbundene Leute. Dies könnte auch beim Fußballer Merih Demiral der Fall sein, aber genaueres weiß ich über ihn leider nicht.
Jedenfalls zeigt nicht nur Erdoğan seit seinem Bündnis mit der MHP immer wieder mal den Wolfsgruß (#05). Auch von Politikern der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, darunter dem langjährigen Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu (#06) oder dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (#07), sind entsprechende Auftritte dokumentiert. Oder von Mansur Yavaş (#08), Oberbürgermeister von Ankara, ebenfalls ein potenzieller Kandidat der CHP bei der Präsidentschaftswahl 2028 – und bis zu seinem Übertritt 2013 MHP-Kommunalpolitiker.
Bei Kılıçdaroğlu oder Imamoğlu kann man davon ausgehen, dass diese Gesten bloß dazu dienten, Sympathien von enttäuschten MHP-Anhängern zu gewinnen. Trotzdem mögen diese Bilder zeigen, dass der Wolfsgruß in der Türkei nicht überall verpönt ist – wie zur MHP, trotz ihrer gewalttätigen Geschichte und ihren Verbindungen zur organisierten Kriminalität, noch nie eine „Brandmauer“ (#09) existierte.
Auch auf einem DER ikonographischen Fotos des Gezi-Aufstands von 2013 ist ein Wolfsgruß zu sehen: Bei einem Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz fliehen zwei junge Männer Hand in Hand vor dem Tränengas. Einer trägt eine Fahne der prokurdischen BDP (später HDP, heute DEM), der andere eine türkische Fahne mit Atatürk-Porträt. Ein dritter streckt der Polizei trotzig den Wolfsgruß entgegen. In den Tagen von Gezi wurde dieses Bild von allen gefeiert: als Ausdruck für Vielfalt und Einheit der Protestbewegung (#10).
Nicht ganz so bekannt, aber in die gleiche Richtung: ein kurzes Video nach dem Sieg von Imamoğlu bei der wiederholten Kommunalwahl im Juni 2019: Hinten tanzen Leute zu einer bekannten kurdischen Musik, vorne posiert jemand mit Imamoğlu-Fahne und Wolfsgruß (#11).
Nancy Faeser u.a. haben die Grauen Wölfe als „rassistisch“ bezeichnet; auch für die Uefa dürfte der Rassismus-Vorwurf eine wichtige Rolle bei der Strafe für Demiral gespielt haben.
Zweifelsohne haben die Grauen Wölfe eine rassistische Note. Reine völkische Nationalisten waren ihre ideologischen Vorläufer, die nicht zuletzt von Nazideutschland inspirierten „Turanisten“ der 40er Jahre (#12). Dieses ideologische Element ist nicht ganz verschwunden, aber heute innerhalb des Ülkücü-Spektrums marginal.
Vielmehr haben die Ülkücü eine Art radikale Version des kemalistischen Nationalismus entwickelt. Selbst in den eigenen Reihen werden Kurden (theoretisch sogar Armenier) akzeptiert, sofern sich diese im nationalstaatlichen Sinn als Türken begreifen.
Ähnlich kompliziert das Verhältnis zum politischen Islam: Die Turanisten waren Atheisten bzw. suchten Anleihen an der vorislamischen türkischen Mythologie. Für Nihal Atsız (#13), den wohl wichtigsten Vordenker der Bewegung, wäre „Islamkritiker“ eine allzu vorsichtige Beschreibung. Zu diesen Anleihen aus vorislamischen Mythologie gehört auch der Wolfsgruß, der allerdings erst in den 90ern populär wurde.
Bald nach der Gründung der MHP 1969, wandte sich Parteichef Türkeş vom reinen Turanismus ab und erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Parteiideologie, was zum Bruch mit Atsız führte. Türkeş wollte seine Doktrin von den „Neun Lichtstrahlen“ als genuin türkisches politische Lehre verstanden wissen, in Abgrenzung gegen alle „ausländischen“ Ideologien (Kommunismus, Liberalismus und Faschismus). In der Praxis das wichtigste ideologische Element blieb damals der Antikommunismus.
Heute haben die Anhänger der Ülkücü in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer einen eher religiös-nationalistischen Lebensstil, in Thrazien, der Ägäis- und Mittelmeerküste eher einen säkular-nationalistischen.
Was diese disparaten Tendenzen vereint und den eigentlichen ideologischen Kern der Ülkücü ausmacht, ist eine mythische Verklärung des „starken“, autoritären (türkischen) Staates. Erst auf dieser Grundlage ist das Kunststück möglich, sich gleichermaßen auf das Osmanische Reich wie auf dessen Liquidator, Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, zu beziehen. Oder auf die osmanischen Kalifen und die vormuslimischen türkischen Stammeskulturen.
Fun Fact am Rande: MHP-Chef Bahçeli (#14) heißt mit Vornamen Devlet, auf Deutsch „Staat“ – selbst nach Maßstäben der extravaganten neotürkischen Vornamen außergewöhnlich extravagant. (Bahçeli bedeutet wiederum „mit Garten“).
Die andere Seite dieser Staatsverklärung: Hass und immer wieder Gewalt gegen alle, die man für „Staatsfeinde“ hält: Kommunisten, Sozialisten, Liberale und – sofern diese politische Rechte beanspruchen – Aleviten, Kurden, Armenier, Juden, Aramäer… Stets in der Selbstgewissheit, die „Existenz des Staates“ zu verteidigen.
Diese Staatsverklärung hängt eng mit der Geschichte der MHP zusammen: Türkeş und die meisten anderen Parteigründer waren Militärs mittlerer Ränge, die 1960 am Putsch beteiligt waren (#15), aber später von den linkskemalistischen Kräften aus der Junta gedrängt wurden.
Umgekehrt war das Verhältnis des Staates zur Ülkücü-Bewegung oft eng, aber nicht ungebrochen. In den 70ern lieferte sich die MHP-Jugendorganisation blutige Auseinandersetzungen mit teils ebenfalls bewaffneten Linken, verübten aber auch Terroranschläge auf Journalisten (#16) oder Gewerkschafter (#17).
Manche, darunter Cem Özdemir, fanden es besonders geschmacklos, dass Demirals Wolfsgruß auf den Jahrestag des Pogroms von Sivas vom Juli 1993 (35 Tote) fiel.
Tatsächlich haben Ülkücü-Anhänger Pogrome gegen die alevitische Bevölkerung zu verantworten. Aber nicht unbedingt Sivas. Dieses von der Staatsmacht geduldete Massaker wurde von Islamisten organisiert; Anlass die Veröffentlichung von Passagen aus Salman Rushdies „Satanischen Versen“ in einer linken Zeitung.
Die anti-alevitischen Pogrome, die von militanten Ülkücü organisiert wurden, liegen länger zurück: Kahramanmaraş (Dezember 1978, über hundert Tote; #18) und Çorum (Juli 1980, 57 Tote; #19).
Einer der berüchtigtsten Killer aus den Reihen der Grauen Wölfe sollte bald daruf weltberühmt werden: Papst-Attentäter Mehmet Ali Ağca (#20).
Für bestimmte Kräfte innerhalb des Staatsapparats waren diese militanten Rechtsextremisten Teil einer „Strategie der Spannung“. Nach dem Putsch vom September 1980 wurde auch sie verhaftet, neben Linken wurden auch einige Ülkücü-Anhänger hingerichtet (#21). Putschistenführer Kenan Evren erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Staatsdoktrin; „unsere Ideen sind an der Macht, wir sind im Knast“, klagte Türkeş.
Dann, in den 80er und 90er Jahren, rekrutierte man militante Ülkücü-Anhänger für Todesschwadronen gegen die PKK, aber auch gegen Mitglieder der kurdischen Zivilgesellschaft (#22). Unter den Angehörigen der offiziellen wie der informellen Anti-Terroreinheiten tummeln sich bis heute zahlreiche Rechtsextremisten.
Der Krieg im kurdischen Südosten schuf eine eigene Kriegsökonomie, in der eine Ülkücü-nahe Mafia entstehen konnte.
Der erste Mafiapate der Grauen Wölfe war Abdullah Çatlı, in den 70ern ein maßgeblicher Verantwortlicher der militanten MHP-Jugend, später als Drogenhändler von Interpol gesucht, eng mit Kräften im Staatsapparat verwoben, was im Februar 1996 mit dem Sususluk-Skandal ans Tageslicht kam.
Bis heute ist ein nennenswerter Teil der organisierten Kriminalität in der Türkei eng mit den Grauen Wölfen verknüpft.
Der wohl wichtigste Ülkücü-Pate der Gegenwart: Alaattin Çakıcı, mit dem MHP-Chef Bahçeli gerne posiert (#24).
Ein anderer Mafia-Boss und Grauer Wolf: Sedat Peker (#25). Vor etwa zehn Jahren erklärte er während eines Gefängnisaufenthalts seine Loyalität zu Erdoğan. Im Frühjahr 2021 wandte er sich wieder von ihm ab und begann mit einer spektakulären Serie von Enthüllungsvideos Erdoğan und einige von dessen engsten Vertrauten unter Druck zu setzen. Dabei belastete er sich auch selbst, indem er u.a. erklärte, welche Übergriffe und Einschüchterungsaktionen gegen Oppositionelle er im Auftrag des Regimes durchgeführt habe.
Auch sonst hat die Bewegung der politischen Gewalt nie gänzlich abgeschworen. Der damals 16-jährige Mörder, der im Januar 2007 in Istanbul den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink (#26) erschoss, kam aus den Reihen einer anderen (heute ebenfalls mit Erdoğan verbündeten) MHP-Abspaltung. Hintergründe und Auftraggeber wurden nie geklärt.
Das letzte Opfer: Sinan Ateş (#27), ehemaliger Chef der MHP-Jugendorganisation und als potenzieller Bahçeli-Nachfolger gehandelt, wurde im Dezember 2022 auf offener Straße in Ankara von den eigenen Leuten ermordet.
Für die Verwicklung von hochrangigen MHP-Politikern und Polizisten in den Ateş-Mord gibt es himmelschreiende Indizien. Trotzdem – genauer: gerade deshalb – ist die Anklageschrift gegen die ausführenden Killer eine Farce.
Zusammengefasst: Die Ülkücü (Grauen Wölfe) sind heute Teil der Regierung oder in der Opposition, im Staatsapparat gut organisiert, in der Polizei schon lange, neuerdings auch in der Justiz. Sie sind Teil der organisierten Kriminalität und zugleich Teil der Popkultur (#28, #29), nicht zuletzt unter Fußballfans (#30)
Aus alledem kann man Gründe für oder gegen ein Verbot der Grauen Wölfe und/oder ihrer Symbole ableiten. Aber vielleicht hilft dieser Exkurs zu verstehen, warum in der Türkei nicht allein Anhänger von AKP/MHP, sondern auch manche Außenstehende nicht Demirals Geste, sondern die Sanktionen der Uefa und die Kommentare deutscher Politiker für einen Skandal halten.
Das Thema wird bleiben, selbst wenn dieser junge Mann (#31) und seine Teamkollegen es heute Abend für die Europameisterschaft beenden sollten.“