ZUM KULTUR-KAHLSCHLAG DES BAYR RUNDFUNKS

hat Thomas von Steinaecker in der FAZ vom 19.9. einen weit ausholenden Protest veröffentlicht, den wir in voller Länge dokumentieren:

„Ein Gespenst geht um in den ­Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen an­gestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer „echten Kulturoffensive“ im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen „Kahlschlag“ befürchten. Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von „Diwan, das Büchermagazin“ über „Kinokultur“, „Jazz und Politik“ und das „Nachtstudio“ bis hin zum „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“.

Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen, ob nun bei HR, WDR oder eben jüngst BR, immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird. Im Jargon des BR-Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es dann, man wolle „noch mehr Hörerinnen und Hörer“ gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm viel zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein.

Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Wie sieht er aus? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet „niedrigschwellig“. Woher jedoch kommt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur? Und woher die Vorstellung, es einem Hörer recht und immer noch rechter zu machen?

„Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen“

Die Kultursendungen hierzulande traten mit einem Anspruch an, der sich nicht krasser von jenem, der von den ­aktuellen Programmverantwortlichen ins Feld geführt wird, unterscheiden könnte. An einem kühl-regnerischen Aprilabend des Jahres 1953 wurden die Hörerinnen und Hörer des Süddeutschen Rundfunks zu einer Zeit, die man heute als Primetime bezeichnen würde, mit den wenig einladenden Worten begrüßt: „Der Dichter, den wir in der nun folgenden halben Stunde vorstellen möchten, gehört nicht zu denen, die viel von sich reden machen.“ Es dauerte auch nicht lange, und man bekam eine Ahnung davon, warum. Der damalige no ­name Arno Schmidt las zunächst experimentelle Prosa, um dann vorsichtig-höflich vom Redakteur der Sen­dung, einem noch unbekannten ­Autor namens Martin Walser, darauf hingewiesen zu werden, dass das alles ja nun doch harter Tobak und recht unverständlich sei, worauf sein Gast trocken entgegnete, er halte nun mal nichts von dem Satz „Kunst dem Volke“, stattdessen: „Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen!“

Wirft man einen Blick zurück, auf jene Fünfzigerjahre, in denen das Radio noch Leitmedium und „jedermann“ mehr oder weniger gezwungen war, das zu hören, was ihm vorgesetzt wurde, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den die Begriffe „abgehoben“ oder „elitär“ noch fast zu schwach erscheinen. Besagter Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern, und in „Radio-Essays“ baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll, in „Sprach­laboratorien“ über „geistige Probleme“ nachzudenken. Das „Abendstudio“ des Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto „Zumutung höchster Ansprüche“, und der NWDR leistete es sich, ein teures elektronisches Studio mit den modern­sten Apparaten auszustatten und Karlheinz Stockhausen für Avantgarde-Kompositionen ein ordentliches monat­liches Salär zu zahlen. Die Stücke wurden dann bei hauseigenen Festivals unter ­besten technischen Bedingungen auf ­geführt und in langen Sendungen nicht nur vor­gestellt, sondern eingehend analysiert.

Nicht selten zog das Reaktionen nach sich wie die nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs „Träume“, das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte ein­sperren, so ein Hörer. Und im Übrigen: Wo man schon dabei sei, dieser Stockhausen (dessen Mutter von den Nazis euthanasiert wurde), der gehöre „vergast“. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Bestätigung und Güte­siegel.

Ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens

Es war die Hochzeit des Radios. Nach den Propagandaschlachten im Äther, in denen die BBC aufseiten der Alliierten federführend gewesen war, war nun dieser britische Sender das Vorbild für die Neugestaltung der Programme in der neuen Bundes­repu­blik. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den Fünfzigerjahren nicht nur zur kulturell anspruchsvollsten und vielfältigsten in Europa, sondern auf der Welt wurde. Deutschland wurde zum international einzigartigen Radioland.

Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte, vor allem die USA, investierten sehr bald Un­summen in das, was sie Reeducation nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essenzielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit ­verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie. Dabei handelte es sich letztlich um eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung mit deren Idealen und Methoden.

Natürlich wäre es naiv, diesem Programm hehre Uneigennützigkeit zu un­terstellen. Zur Wahrheit gehört auch, dass das analysierende Argumentieren, das so etwas wie das kühle Herz dieser Sendungen ausmacht, oft mit schwer verdau­licher Trockenheit einherging. Humor oder Lebendigkeit des Vortrags gehörten, vorsichtig formuliert, nicht zu den Kernkompetenzen dieser Generation von Radiomachern. Und ja, wo wir dabei sind: Das alles war, eben zeittypisch, eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Und ­sicher: An manchen Stellen lief dieses Projekt der Aufklärung Gefahr, zu einem ­exklusiven Klub der Besserwisser zu werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt.

Wir wollen überwältigt werden

Trotzdem: Dieser unschöne Begleit­akkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundesrepublik und seines Radios ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln und Augenrollen hervor­rufen würden, darunter vor allem die Nummer eins auf einer imaginären Shitlist des Uncoolen: „intellektuell“. Intellektuell? Kanon? Bildung? Das Radio als kulturelle Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts? Echt jetzt? Kann schon sein, dass manch einem da ein „Ist mir zu deep, Digga!“ auf der Zunge liegt.

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Nicht nur bei den Kulturprogrammen selbst. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten „Regal“ bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Ein Buch, eine Meinung. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Wir wollen überwältigt werden. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen.

Im aktuellen Positionspapier des BR, die Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es, es seien ganz neue Formate geplant, traditionelle Literaturkritiken würden ersetzt durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen – ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das seit Jahren im „Tagesgespräch“ auf ­Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der ­Hörer aus der Gruppe der legenden­umwoben ominösen und von allen Seiten auf anbiedernde Weise umworbenen postmateriellen und neoökologischen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den sogenannten Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? „Zumutung höchster Ansprüche“? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja höhlen­menschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht.

Grundsätzlich und gefährlich

Aber vielleicht existiert er ja doch in naher Zukunft. Jedes Medium produziert seine Rezipienten. „Am Versiegen“ der „rationalisierenden Kraft der öffent­lichen Auseinandersetzungen“, schrieb einer der letzten alten Intellektuellen dieses Landes, Jürgen Habermas, 2022, „bemisst sich die politische Regression, in deren Sog seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts fast alle Demokratien des Westens geraten sind.“ Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Wunsch- oder besser Albtraum­hörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter ­offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Totalverweigerung ge­genüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. Aber wen juckt schon so ein Vertrag? Bildung, wozu?

Am Kipppunkt in der Entwicklung eines trotz Fernsehen und Internet immer noch maßgeblichen ­Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es geht um viel Grundsätzlicheres und Gefährlicheres: Ohne Not wird hier Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den Fünfzigern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit dir?

Thomas von Steinaecker, geboren 1977, ist Schriftsteller. Gerade erschien sein Roman „Die Privilegierten“ (S. Fischer). Er ist Mitinitiator des Künstlerprotestes gegen die geplante Kulturprogrammreform des BR.“

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